Chemotherapie - Chemobrain, ein Phantom lässt sich jetzt messen

2. Juli 2015 

"Seit meiner Chemotherapie kann ich mich nicht mehr richtig konzentrieren - ich vergesse viel, mein Gedächtnis lässt mich oft im Stich, ich kriege viele Dinge einfach nicht mehr so wie früher auf die Reihe". Über solche und andere Ausfallerscheinen - die Wissenschaft bezeichnet sie als  "kognitive Defizite" berichten viele Brustkrebspatientinnen. Zwischen 17 und 75 Prozent der Patientinnen geben - je nach Studie - "Chemobrain" -so die landläufige Bezeichnung für die belastenden Defizite - als Nebenwirkung der Chemotherapie an.

Die Datenlage zu den Effekten der Chemotherapie auf die Hirn-und Gedächtnisleistung ist allerdings ausgesprochen widersprüchlich. Manche Studien weisen Zusammenhänge zwischen Chemo und Aufmerksamkeitsdefiziten nach - andere wiederum nicht.  Oftmals müssen sich Patientinnen deshalb den Vorwurf gefallen lassen, unter einer Therapienebenwirkung zu leiden, die es eigentlich gar nicht gibt. Chemobrain, das sei ein Phantom, keine Realität. Kandischen Forschern ist es nun gelungen, diese Phänomen "Chemobrain" wissenschaftlich  nachzuweisen.

Bei ihren Tests ging die kanadische Studiengruppe von der University of British Columbia in Vancouver unter Leitung von Dr. Julia Kam untersuchte von der Hypothese aus, dass die widersprüchlichen Studienergebnisse auf die neuropsychologische Versuchsanordnung zurückzuführen sind. Bei diesen Tests müssen sich die Probanden im Allgemeinen nur Anforderungen stellen, die wenige Minuten Aufmerksamkeit beanspruchen.  Wenn es aber darum geht, Alltagsaufgaben zu bewältigen, ist es wichtig, die Konzentration über einen längeren Zeitraum aufrecht zu erhalten.

Die kanadische Studiengruppe testete deshalb im Rahmen ihrer Studie 19 Brustkrebspatientinnen und zwölf gesunde Frauen. Die Patientinnen litten auch noch drei Jahre nach überstandener Chemotherapie unter mentalen Ausfallerscheinungen. Im Rahmen des Tests mussten sich alle Teilnehmerinnen eine Präsentation eine Stunde lang ansehen. Die Aufgabe bestand darin, bei bestimmten Reizen eine Taste zu drücken oder den Tastendruck bei selten auftretenden Zielreizen zu unterlassen. Zwischenzeitlich wurden die Frauen zu ihrem Aufmerksamkeitsniveau befragt, gleichzeitig wurde während des gesamten Tests eine Hirnstormmessung per EEG durchgeführt. Vor Beginn des Tests hatten die Wissenschaftler bei jeder Frau ein Ruhe-EEG geschrieben.

Im Verlauf der Tests zeigte sich, dass sich die Daueraufmerksamkeit der Brustkrebspatientinnen deutlich von der der gesunden Frauen unterschied - und zwar auf mehreren Ebenen.  Die Patientinnen ließen sich eher ablenken als die Frauen in der Kontrollgruppe, ihre Reaktionszeiten waren weniger konstant, die Trefferrate niedriger. Zudem schweiften die Brustkrebspatientinnen mit ihren Gedanken oft ab. Auch im EEG zeigten sich Unterschiede: Die Amplitude des P300 Potentials (dieses wird etwa 300 Millisekunden nach dem Auftreten seltener Zielreize erhoben) war bei den Brustkrebspatientinnen flacher als den gesunden Frauen und auch die Hirnaktivität  (Potentiallatenz) nach häufigen Reizen war verlängert. Auch im Ruhe-EEG gab es Unterschiede. Bei den Brustkrebspatientinnen zeigte sich eine höhere neuronale Aktivität.

Nach Auskunft von Studienleiterin Kam lassen sich diese Ergebnisse dahingehend deuten, dass Brustkrebspatientinnen in einem sogenannten erhöhten introspektiven Aufmerksamkeitsmodus leben: Sie sind gedanklich mehr mit ihrer Innenwelt beschäftigt und neigen dazu, den eigenen Gedanken nachzuhängen. Dies könnte auch der Grund für die Aufmerksamkeitsdefizite im Alltag sein. Die kanadischen Forscher konnten damit im Labor eine subjektive Empfindung mittels eines objektiven Tests überprüfen. Allerdings: Nicht die Chemotherapie scheint der Auslöser der Aufmerksamkeitsdefizite zu sein, sondern die mentale Verarbeitung der Krebserkrankung an sich. (akk)

 Literatur:  Kam JWY et al. Sustained attention abnormalities in breast cancer survivors with cognitive deficits post chemotherapy: Anelectrophysiological study. Clin Neurophysiol 2015; online 25. März. doi: 10.1016/j.clinph.2015.03.007