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Krebs – die Volkskrankheit verstehen, erkennen, behandeln, vermeiden
Rezension von Annette Kruse-Keirath
Was verbindet Michael Lesch, Edzard Hausmann, Manfred Stolpe, Janine Pietsch, Michael und Ulli Roth? Eine gemeinsame Diagnose: Krebs! Und die Tatsache, dass alle sechs dazu bereit waren, im „Krebsbuch“, das die Deutsche Krebsgesellschaft (DKG) gemeinsam mit der Bildzeitung im Oktober des vergangenen Jahres herausgegeben hat, über ihre Erfahrungen zu berichten. Bei so viel Prominenz und entsprechender Promotion in den Medien greift man – insbesondere als „Bild- kritischer“ Leser - zunächst etwas zögerlich nach dem knapp 300 Seiten umfassenden Buch, das auf Anhieb in den Bestseller-Listen von Focus und Stern landete.
Kann unter der Regie von „Bild“ wirklich eine seriöse und fundierte Wissensvermittlung stattfinden? Die Intention des Ratgebers beschreibt Bild-Chefredakteur Kai Diekmann im Vorwort: „Bild will aufklären und Orientierung geben. Wir wollen Betroffene und Angehörige auf dem oft schweren und langen Weg vom Verdachtsmoment über Diagnose, Therapie bis hin zur Nachsorge begleiten. Wir wollen Fragen beantworten und damit Licht ins Dunkel bringen. Aber vor allem wollen wir eins: Mut machen!“ Und das gelingt dem Buch sehr gut, für das u.a. der Chef der Deutschen Krebsgesellschaft, Prof. Werner Hohenberger und der Europachef Onkologie des Pharmaunternehmens Pfizer, Dr. Andreas Penk, als Herausgeber verantwortlich zeichnen.
Nach der Lektüre des Krebsbuchs, das auch für medizinische Laien leicht verständlich und reich mit Fotos und Schautafeln bebildert ist, so dass komplizierte medizinische Zusammenhänge wie z.B. die Wirkungsweise einer Chemo- oder Strahlentherapie einfach und nachvollziehbar erläutert werden, ist man angenehm „enttäuscht“. Dem Bild-Krebsratgeber gelingt es – nicht zuletzt auch über die sehr persönlichen Erfahrungsberichte der prominenten Krebspatienten -, einen fundierten Überblick zu den „Krebsfakten“ und den unterschiedlichen Diagnostik- und Therapieverfahren zu geben. Eine kritische Bewertung der aktuellen Studienlandschaft kommt ebenso wenig zu kurz wie die Sichtung von komplementärmedizinischen Behandlungsmethoden. In drei großen Kapiteln – „Krebs verstehen“, „Der Krebs und ich“, „Das Therapiehandbuch“ – vermittelt das Krebsbuch einen Überblick zu dem, was wir heute über die Entstehung, Früherkennung und Behandlung unterschiedlicher Krebsarten und Krebsstadien wissen. So leistet es wertvolle Aufklärungsarbeit und kann gleichzeitig dazu beitragen, Ängste abzubauen, die den einen oder anderen vielleicht daran hindern, an einer Früherkennungsuntersuchung teilzunehmen oder eine bestimmte Behandlung durchzuhalten.
Das Buch verschweigt im zweiten Teil „ Der Krebs und ich“ auch nicht den Schock, den die Diagnose „Krebs“ nicht nur beim ersten Mal auslöst. So beschreibt der ehemalige Ministerpräsident von Brandenburg , wie sein Krebs nach sieben Jahren mit Lebermetastasen zurückkehrte und gleichzeitig bei seiner Frau Brustkrebs diagnostiziert wurde: „ Meine Frau und ich haben uns daran gewöhnt, dass es nun in unserem Leben etwas gibt, das den Takt angibt. Der Krebs bestimmt unseren Terminkalender vor“, fasst der Politiker zusammen. Regisseur Leander Haussmann geht in seinem Beitrag „Wir haben unseren Vater zum Sterben nach Hause geholt“ kritisch mit den Medizinprofis ins Gericht: „Manche Ärzte können es gar nicht abwarten, eine Prognose los zu werden. Ihr Herr Vater wird nicht mehr länger als sechs Monate leben, Herr Haussmann. Diesen Satz bekam ich ungefragt zu hören“.
Und die Schwimmerin Janine Pietsch, die 2008 mit 29 Jahren an Brustkrebs erkrankte, schildert nicht nur die Nebenwirkungen ihrer Chemo- und Antihormontherapie („ich bin 29 Jahre alt und stecke mitten in den Wechseljahren“), die ihre Sportlerkarriere beenden, sondern auch die Kehrtwende, die plötzlich ihr Leben veränderte: „Ich überlege, mein Abi nachzuholen und zu studieren, dafür war neben dem Sport nie Platz. Wo ich hinwill, weiß ich noch nicht genau. Ich stehe jetzt vor den Entscheidungen, vor denen Achtzehnjährige nach der Schule stehen - nur mit der Lebenserfahrung einer Neunundzwanzigjährigen. Das ist doch auch nicht schlecht."
Die Diagnose Krebs ist oder muss heute kein Todesurteil mehr sein. Die Erfolgschancen der Behandlung haben sich deutlich verbessert – das belegt das Buch in eindrucksvoller Weise. Aber von diesen Fortschritten profitiert nur der, der umfassend informiert ist und die richtigen Wege zu gehen weiß. Das sind leider immer noch zu Wenige. Das Krebsbuch will und kann dazu beitragen, dass sich das ändert - nicht zuletzt deshalb, weil es dank „Bild“ auch Menschen erreicht, die sonst kaum aufgeschlossen gegenüber wissenschaftlicher Lektüre sind.
Sarah Majorczyk, Werner Hohenberger, Andreas Penk: Das Krebsbuch – die Volkskrankheit verstehen, erkennen, behandeln, vermeiden. Verlag Zabert Sandmann, München 2011, 281 Seiten, 14,95 Euro. ISBN 978-3-89883-312-7
Man sagt sich nicht nur einmal Lebewohl
Rezension von Annette Kruse-Keirath
Seine Bücher, populär-wissenschaftlich geschrieben und dabei immer wissenschaftlich fundiert, wurden in Dutzende von Sprachen übersetzt, haben Millionen von Lesern und Leserinnen erreicht. Denn die Botschaft, die der französische Psychiater David Servan-Schreiber in seinen Bestsellern: „Die neue Medizin der Emotion“ und „Das Anti-Krebsbuch“ verbreitete, war eine, die vielen Menschen aus dem Herzen sprach: Unser Körper kann mit schweren Erkrankungen fertig werden, wenn es uns gelingt, die Selbstheilungskräfte des Organismus zu aktivieren. Wir sind nicht passiv Leidende, sondern können selbst aktiv etwas gegen die Krankheit und für unsere Gesundheit tun!
Servan-Schreiber selbst war, so schien es über 19 Jahre, das beste und überzeugendste Beispiel dafür, dass man Krebs durch einen Antikrebs-Lebensstil überwinden kann. Der „Krebsarzt“ litt selbst an einem Gehirntumor Allerdings: 2010 kehrte die Krankheit zurück – und zwar in einer sehr aggressiven, unheilbaren Variante, wie es Servan-Schreiber in seinem letzten, nach seinem Tod veröffentlichten Buch mit dem Titel: „Man sagt sich nicht nur einmal Lebewohl“ beschreibt. Dieses Buch, das nur 150 Seiten „dünn“ ist, ist vielleicht das persönlichste eines engagierten Wissenschaftlers und staunenden Forschers, der sich nach Ausbruch seiner Krebserkrankung immer bewusst war: „Früher oder später würde er zurückkehren, das wusste ich. Ich konnte Zeit gewinnen, gut und ohne Angst leben, ihn fast vergessen. Aber jetzt ist der Rückfall da. The Big one“.
Anfangs – im Juni 2010 - ist Servan-Schreiber zuversichtlich, den Krebs auch diesmal zu besiegen. Im MRT hat man eine „Riesenkugel“ festgestellt – mit Blutgefäßen durchzogen und raumfüllend. Der Onkologe glaubt an ein Ödem als zeitverzögerte Reaktion auf vorangegangene Bestrahlungen. Anlass für das Kernspin waren Symptome wie Kopf- und Rückenschmerzen und vorübergehende muskuläre Ausfallerscheinungen, die zu plötzlichen Stürzen führten. Doch die anfängliche Hoffnung – vielleicht auch die Verleugnung der im Inneren bereits bekannten Diagnose – ist trügerisch. Bald steht fest: Das Ödem ist ein Tumor – und zwar ein bösartiger.
Obwohl Servan-Schreiber seine Prognose nur zu gut kennt, nimmt er den Kampf gegen die Krankheit wieder auf, schaltet auf „Bewältigungsmodus“, wie er es nennt. Er lässt sich erneut operieren und radioaktive Kügelchen ins Gehirn einsetzen, die die Restzellen des Tumors zerstören sollen, unterzieht sich in Belgien einer speziellen, kräftezehrenden Impftherapie. Das Glioblastom, Stadium IV, widersetzt sich allen Therapieversuchen - auch den komplementärmedizinischen – und schreitet voran. Dennoch, und das ist das Überzeugende an diesem Krankheitsbericht mit unabwendbarem Ausgang, gibt der Patient nicht auf, sondern behält seine „Selbstkompetenz“: die Fähigkeit, über sich selbst zu bestimmen. Auch seine Selbstzweifel. Wozu das alles? Sind die Methoden, die das Anti-Krebsbuch empfiehlt, vielleicht doch falsch, hat das Buch seine Gültigkeit verloren? Warum konnten sie nicht vor dem Rückfall schützen?
Diese Zweifel lässt Servan-Schreiber in seinem Buch genauso wenig aus wie die Frage: Wie reagiere ich, wenn der Tod kommt, wenn er vor mir steht? Sein letztes Buch will der Autor als Antwort auch auf diese Fragen verstanden wissen. Und es ist auch seine Art, Lebewohl zu sagen und sich von den Menschen zu verabschieden, die ihm wichtig sind: von seiner Frau, seinen Kinder, seiner Familie und seinen Zuhörern und Lesern, denen er sich bis zuletzt verpflichtet fühlt. Sachlich und exakt beschreibt er die Stationen seiner Erkrankung und die damit verbundenen körperlichen Einschränkungen. Dass er den Krebs nicht besiegen, wohl aber sehr lange – entgegen der Prognose bei Erstdiagnose – leben und überleben konnte, bestärkt ihn in seiner Überzeugung: Ich habe es in der Hand, meinen Gesundheitszustand positiv zu beeinflussen.Und: „Man muss die eigene Gesundheit pflegen, sein seelisches Gleichgewicht pflegen, seine Beziehungen zu Menschen pflegen, die Erde um uns herum pflegen. Die Gesamtheit dieser Bemühungen trägt dazu bei, uns vor Krebs zu schützen, individuell und kollektiv, auch wenn es nie eine hundertprozentige Garantie geben kann“.
Besonders beeindrucken zwei der letzten Kapitel des Buchs über die Liebe und die „Liebkosung des Windes“. Beide beschreiben auf eine sehr intime Art und Weise Servan-Schreibers Auseinandersetzung mit dem Tod und dem Verlangen nach Unsterblichkeit. „Wenn ich nicht körperlich zurückkomme, vergiss nicht, dass jedes Mal, wenn du den Wind auf deinen Wangen spürst, ich es bin, der dir einen Kuss gibt“ zitiert er dort aus dem Brief eines Soldaten aus dem amerikanischen Bürgerkrieg. Das Gefühl, das er sich wünscht mit seiner Familie – die jüngste Tochter ist gerade zwei Jahre alt - auch nach seinem Tod zu teilen, verbindet ihn auch mit allen, denen er im Kampf gegen den Krebs Vorbild war. „Mein Bruder David starb acht Wochen, nachdem er dieses Buch vollendet hatte“, schreibt Emile Servan-Schreiber im Epilog. „Die Art, wie er seinem Tod entgegenging, ist eine Lehre fürs Leben“.
David Servan-Schreiber: Man sagt sich nicht nur einmal Lebewohl. Kunstmann-Verlag, München 2012, 152 Seiten, 14,95 Euro. ISBN 978-3-88897-751-0
Oben ohne: Die Entscheidung zu leben
Rezension von Annette Kruse-Keirath
Ein spektakulärer Titel - eine professionelle Vermarktung, ein bewegendes und kontrovers zu diskutierendes Thema! Kann dabei ein lesenswertes Buch herauskommen? Die Antwort: Ja! Evelyn Heeg hat ein mutiges und ent-tabuisierendes Buch geschrieben - das provoziert, anrührt, ermutigt und manchmal auch desillusioniert, das aber in jedem Fall Mut macht zu einem selbstbestimmten Leben.
Das Buch erzählt zwei Geschichten: Die von Evelyn, die eine Entscheidung treffen muss, ob sie mit dem Risiko eines familiären Brustkrebsrisikos - der "tickenden Zeitbombe" leben will - und die einer Familie, in der Brustkrebs stattfindet, aber tabuisiert wird.
Als Evelyn weiß, dass sie das vielleicht "tödliche Gen BRCA1" als Erblast in sich trägt, trifft sie eine mutige Entscheidung: Um zu leben, will sie auf ihre Brüste verzichten. Das stößt bei ihrer Umwelt manchmal auf Unverständnis. Viele bewundern aber den Mut zu dieser radikalen Entscheidung. Für Evelyn Heeg selbst ist die Operationsentscheidung mit einer ehrlichen Auseinandersetzung mit ihrer Familiengeschichte verbunden. Und zu Tage tritt das Leid und die Überforderung eines "verwaisten Kindes", das funktionieren muss, weil die Mutter plötzlich nicht mehr da ist. Danach steht für Evelyn fest: "Ich will leben - wenn es sein muss - ohne Brüste! Die Entscheidung zur Entfernung von noch gesunden Brüsten ist somit nur konsequent, wenngleich schmerzvoll. Nach der Brustentfernung liegt das Risiko für Brustkrebs nur noch bei einem Prozent, versichern die Ärzte. "Dass Krebs in meiner Familie endlich aufhört" ist das Anliegen von Evelyn Heeg. "Meine Mutter hatte keine Chance, ihn zu verhindern. Ich hatte diese Chance. Dafür bin ich sehr dankbar."
Evelyn Heeg, Oben ohne: Die Entscheidung zu leben, Krüger Verlag, Frankfurt, 14,95 Euro, ISBN-10: 3810509396, ISBN-13: 978-3810509390
Cancer Woman
Rezension von Annette Kruse-Keirath
Ist ein Cartoon die angemessene Form, um die Erfahrung „Brustkrebs“ zu beschreiben? So manche Brustkrebspatientin wird diese Frage spontan mit einem entschiedenen „Nein“ beantworten. Wer sich aber auf die besondere Art der Bilder- Geschichte von „Cancer woman“ einlässt, wird seine Meinung vielleicht doch ändern. Marisa Acocella Marchetto hat mit dem Cartoon eine ganz spezielle Form des Bildberichts gewählt, um ihre eigene Brustkrebsgeschichte zu erzählen. Ihr Buch, das bereits 2006 in den USA erschienen ist und dort mehrfach ausgezeichnet wurde, ist seit März 2012 in einer deutschsprachigen Version auf dem Markt.
Die Geschichte von Marisas Brustkrebs beginnt wie die einer modernen Großstadtfrau, die gerade den größten Glückstreffer in ihrem Leben gelandet hat: Der begehrteste Junggeselle New Yorks, Restaurantbesitzer Silvano Marchetto, hat der aufstrebenden Cartoonistin einen Heiratsantrag gemacht – und mitten in die Hochzeitsvorbereitungen platzt die Diagnose: Brustkrebs! Im Buch finden sich dafür starke Bilder: Plötzlich klingelt es an der Tür, und auf die Frage, wer da sei, schreit ihr ein furchterregender Schattenkopf entgegen: Dein Hochzeitskrebs, dein Karrierekrebs, dein Lebenskrebs!
Marisa Acocella ist 43 Jahre alt, als die Begegnung mit dem Krebs ihr Leben, das von der Jagd nach Erfolg, Parties, Beauty und Bettgeschichten bestimmt war, völlig umkrempelt. Statt in Lethargie und Depression zu verfallen, nutzt die Cartoonistin ihr Kreativ-Kapital und verfasst eine Comic-Erzählung ihrer eigenen Krebserkrankung – in ausdrucksstarken Bildern, ironisch distanziert, witzig im Ton, ohne Sentimentalität und mit Sinn für Situationskomik. So dudelt aus der Telefonwarteschleifen ihres Onkologen die Botschaft „staying alive“, ein Tapetenmuster in einem Café erinnert sie an Sprechblasen, die nur noch eines rufen: Cancer, Cancer. Und urweibliche Furcht davor, dass das Haar nicht richtig sitzen könnte (bad hair day) verändert sich bei Marisa Acocella zum Grauen vor dem „no hair day“.
Das Buch hat neben der eigenen Krankheitserfahrung aber auch eine sozialkritische Seite. So fragt sich Marisa Acocella Marchetto, wie es überhaupt zu Brustkrebs kommt. Können nicht vielleicht auch die vielen Stromleitungen neben den Grundschulen Schuld daran sein – oder die nicht sanierten Giftmülldeponien in den nach außen hin so adretten Vorstadtsiedlungen? Und wie kommt eine Frau ohne Krankenversicherung mit einer Brustkrebserkrankung zurecht. Sie, die mehr oder minder erfolgreiche Cartoonistin, die selbst im Moment ihrer Erkrankung ohne Versicherung ist, merkt plötzlich, wie wichtig diese Belange des Lebens sind. Denn nun muss sie verzweifelt Ärzte und Krankenhäuser abtelefonieren, um überhaupt behandelt zu werden – und ohne die finanzielle Unterstützung ihres zukünftigen Mannes hätte sie die Rechnungen nicht bezahlen können.
Aus diesem Grund hat sie einen Fond gegründet, in den Teile des Verkaufserlöses einfließen, mit dem jährlich rund 250 unversicherten Frauen eine Mammografie ermöglicht wird – „denn entdeckst du Brustrebs früh, hast du eine 98prozentige Überlebensrate“, so Marisa Acocella Marchetto. Zugegeben: Ein Cartoon ist nicht jederfraus Sache, um über eine Krebserfahrung zu berichten. Aber niemand, der das Buch von Marisa Marchetto liest oder einfach nur durchblättert, kann sich dem Eindruck der starken, einfachen und farbigen Bilder entziehen, in denen die Autorin nicht nur ihre Geschichte, sondern auch ihre Gefühle und ihre Verzweiflung beschreibt. Und vielleicht liegt es gerade daran, dass dieser Comic auf seine ganze besondere Art auch Menschen erreicht, die sich sonst nie mit dem Thema "Brustkrebs" beschäftigen würden.
Marisa Acocella Marchetto: Cancer Woman: Eine wahre Geschichte. Atrium-Verlag, Hamburg 2012, 224 Seiten, 22,95 Euro. ISBN 978-3-85535-507-5
Tod einer Untröstlichen
Rezension von Annette Kruse-Keirath
Es ist ein mutiges, vielleicht auch gefährliches literarisches Unterfangen, wenn der schreibende Sohn einer weltweit bekannten Schriftstellerin, glühenden Feministin und engagierten Aktivistin für Frauenrechte über die letzten Lebensmonate seiner Mutter und ihr Sterben scheibt. Noch dazu dann, wenn das Verhältnis zwischen beiden keineswegs immer ein ungetrübtes und herzliches, sondern eher ein kompliziertes war. Der Journalist David Rieff hat diesen Versuch unternommen und unter dem Titel: „Tod einer Untröstlichen“ ein leises, unaufgeregt distanziertes, gleichzeitig menschlich ergreifendes und literarisch überzeugendes Buch über das Sterben seiner Mutter, Susan Sontag, geschrieben.
Der Sohn beschreibt einfühlsam den Weg von der Diagnose Leukämie, die Susan Sontag in einer unheilbaren Variante ereilt, bis zu den letzten Lebenstagen im Krankenkaus. Susan Sontag akzeptiert die Diagnose, weiß sie doch nach überstandener Brustkrebser-krankung und überlebtem Gebärmuttersarkrom als Spezialistin der eigenen Gesundheit um die Bedeutung der drei Buchstaben MDS (myelodysplastisches Syndrom). „Was sie mir sagen“ zitiert Rieff die Mutter, „heißt also, dass man tatsächlich nichts tun kann- dass ich nichts tun kann“.
Doch die große Kämpferin, die den Krebs schon mehrfach überlebt hat, fügt sich nicht in das vermeintlich Unabänderliche und Unausweichliche, verfällt nicht in Depression und schiebt Abschiedsgedanken weit von sich. Aus einer schier unerschöpflichen Gier nach Leben, wie es der Sohn in der Rückschau zusammenfasst, unterzieht sie sich einer Chemotherapie – auch auf die Gefahr hin, den mitgenommenen Körper noch weiter zu schwächen. Minutiös beschreibt David Rieff, wie sich seine Mutter getreu ihrem Lebensmotto: Wissen ist Macht – auch zur Expertin ihrer letzten Krankheit entwickelt. Sie recherchiert, liest Studien, durchforstet das Internet in journalistischer Akribie – so als ließe sich die Leukämie hierdurch beherrschen.
Diese Suche war der verzweifelte Versuch, so die Interpretation des Sohnes, etwas zu erlangen, worauf zum Tode Verurteilte hoffen: Strafmilderung. Auch als die Chemotherapie misslingt, ist Susan Sontag nicht dazu bereit, die Tatsache ihrer Endlichkeit zu akzeptieren. Zwischen Mutter und Sohn beginnt mit dem Fortschreiten der Erkrankung eine Art verbales Versteckspiel. Obwohl er von der Endgültigkeit der Diagnose und den geringen Chancen auf Heilung überzeugt ist, belügt David Rieff seine Mutter. Susan Sontag, die Frau mit dem unbändigen Hunger nach Wahrheit, hört nur noch das Echo ihrer eigenen Glaubenssätze, erfährt nur noch das, was sie hören möchte – nicht mehr die objektive medizinische Wahrheit. „Meine Mutter hatte sich stets als eine Person mit einem unstillbaren Hunger nach Wahrheit gesehen. Nach der Diagnose blieb ihr der Hunger erhalten, aber nun verlangte sie nach dem Leben und nicht nach der Wahrheit.“
Einfühlsam, detailliert, aber immer mit respektvoller Distanz vor ihrer Persönlichkeit schildert David Rieff das körperliche und seelische Leiden seiner Mutter. Gerade in der letzten Phase ihres Lebens entwickelt sie – im Spannungsfeld zwischen dem Glauben an die Wissenschaft und der Hoffnung auf die Magie des Heilers ein sehr intensives und vertrauensvolles Verhältnis zu ihrem betreuenden Arzt, der ihr ein sanftes Sterben ermöglicht. In das Leben dieser rationalen Frau tritt plötzlich eine neue Kraft: der Glaube an das Unmögliche.
David Rieff hat ein sehr persönliches und gleichzeitig für viele wichtiges Buch geschrieben. Es ist auch ein Plädoyer dafür, dem Tod und dem Sterben im Leben mehr Platz zu geben und den Tod als Teil des Lebens zu akzeptieren. In der Mutter-Sohn-Beziehung bleibt das Sprechen über den Tod ein Tabu. „Es war ihr Tod, nicht meiner. Und sie sprach es nicht an. Es anzuschneiden, wäre dem Eingeständnis gleichgekommen, dass sie sterben könnte, während sie nur eines wollte: Überleben, nicht vergehen – überleben unter allen Umständen. Vielleicht war dieses Weiterleben wollen ihre Art zu sterben.“
David Rieff: Tod einer Untröstlichen – Die letzten Tage von Susan Sontag
Hanser-Verlag, 2008, ISBN 978-3-446-23276-1, Preis: 17,90 €