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Tod einer Untröstlichen
Rezension von Annette Kruse-Keirath
Es ist ein mutiges, vielleicht auch gefährliches literarisches Unterfangen, wenn der schreibende Sohn einer weltweit bekannten Schriftstellerin, glühenden Feministin und engagierten Aktivistin für Frauenrechte über die letzten Lebensmonate seiner Mutter und ihr Sterben scheibt. Noch dazu dann, wenn das Verhältnis zwischen beiden keineswegs immer ein ungetrübtes und herzliches, sondern eher ein kompliziertes war. Der Journalist David Rieff hat diesen Versuch unternommen und unter dem Titel: „Tod einer Untröstlichen“ ein leises, unaufgeregt distanziertes, gleichzeitig menschlich ergreifendes und literarisch überzeugendes Buch über das Sterben seiner Mutter, Susan Sontag, geschrieben.
Der Sohn beschreibt einfühlsam den Weg von der Diagnose Leukämie, die Susan Sontag in einer unheilbaren Variante ereilt, bis zu den letzten Lebenstagen im Krankenkaus. Susan Sontag akzeptiert die Diagnose, weiß sie doch nach überstandener Brustkrebser-krankung und überlebtem Gebärmuttersarkrom als Spezialistin der eigenen Gesundheit um die Bedeutung der drei Buchstaben MDS (myelodysplastisches Syndrom). „Was sie mir sagen“ zitiert Rieff die Mutter, „heißt also, dass man tatsächlich nichts tun kann- dass ich nichts tun kann“.
Doch die große Kämpferin, die den Krebs schon mehrfach überlebt hat, fügt sich nicht in das vermeintlich Unabänderliche und Unausweichliche, verfällt nicht in Depression und schiebt Abschiedsgedanken weit von sich. Aus einer schier unerschöpflichen Gier nach Leben, wie es der Sohn in der Rückschau zusammenfasst, unterzieht sie sich einer Chemotherapie – auch auf die Gefahr hin, den mitgenommenen Körper noch weiter zu schwächen. Minutiös beschreibt David Rieff, wie sich seine Mutter getreu ihrem Lebensmotto: Wissen ist Macht – auch zur Expertin ihrer letzten Krankheit entwickelt. Sie recherchiert, liest Studien, durchforstet das Internet in journalistischer Akribie – so als ließe sich die Leukämie hierdurch beherrschen.
Diese Suche war der verzweifelte Versuch, so die Interpretation des Sohnes, etwas zu erlangen, worauf zum Tode Verurteilte hoffen: Strafmilderung. Auch als die Chemotherapie misslingt, ist Susan Sontag nicht dazu bereit, die Tatsache ihrer Endlichkeit zu akzeptieren. Zwischen Mutter und Sohn beginnt mit dem Fortschreiten der Erkrankung eine Art verbales Versteckspiel. Obwohl er von der Endgültigkeit der Diagnose und den geringen Chancen auf Heilung überzeugt ist, belügt David Rieff seine Mutter. Susan Sontag, die Frau mit dem unbändigen Hunger nach Wahrheit, hört nur noch das Echo ihrer eigenen Glaubenssätze, erfährt nur noch das, was sie hören möchte – nicht mehr die objektive medizinische Wahrheit. „Meine Mutter hatte sich stets als eine Person mit einem unstillbaren Hunger nach Wahrheit gesehen. Nach der Diagnose blieb ihr der Hunger erhalten, aber nun verlangte sie nach dem Leben und nicht nach der Wahrheit.“
Einfühlsam, detailliert, aber immer mit respektvoller Distanz vor ihrer Persönlichkeit schildert David Rieff das körperliche und seelische Leiden seiner Mutter. Gerade in der letzten Phase ihres Lebens entwickelt sie – im Spannungsfeld zwischen dem Glauben an die Wissenschaft und der Hoffnung auf die Magie des Heilers ein sehr intensives und vertrauensvolles Verhältnis zu ihrem betreuenden Arzt, der ihr ein sanftes Sterben ermöglicht. In das Leben dieser rationalen Frau tritt plötzlich eine neue Kraft: der Glaube an das Unmögliche.
David Rieff hat ein sehr persönliches und gleichzeitig für viele wichtiges Buch geschrieben. Es ist auch ein Plädoyer dafür, dem Tod und dem Sterben im Leben mehr Platz zu geben und den Tod als Teil des Lebens zu akzeptieren. In der Mutter-Sohn-Beziehung bleibt das Sprechen über den Tod ein Tabu. „Es war ihr Tod, nicht meiner. Und sie sprach es nicht an. Es anzuschneiden, wäre dem Eingeständnis gleichgekommen, dass sie sterben könnte, während sie nur eines wollte: Überleben, nicht vergehen – überleben unter allen Umständen. Vielleicht war dieses Weiterleben wollen ihre Art zu sterben.“
David Rieff: Tod einer Untröstlichen – Die letzten Tage von Susan Sontag
Hanser-Verlag, 2008, ISBN 978-3-446-23276-1, Preis: 17,90 €