Bedingt objektiv - Ärztliche Wertvorstellungen beeinflussen Therapieempfehlungen

22. Juni 2013
Gerade dann, wenn Menschen an einer fortgeschrittenen Krebserkrankung leiden, spielen nicht nur medizinische Faktoren bei der ärztlichen Therapieempfehlung eine Rolle. 

Auch subjektive Einflussgrößen wie das Arzt-Patienten-Verhältnis, die Einschätzung der Lebenssituation des Patienten und das Alter des Erkrankten haben entscheidenden Einfluss. Das bestätigt jetzt eine Studie, die Forscher der Ruhr-Universität Bochum gemeinsam mit Kollegen von der Universität Oxford durchführten.  Die Wissenschaftler, die ihre Studienergebnisse jetzt in den Fachzeitschriften „The Oncologist“ und „Annals of Oncology“ veröffentlichten, untersuchten dabei, wie Patienten Informationen wahrnehmen, die sie von Ärzten im Rahmen der medizinischen Aufklärung zu unterschiedlichen Therapien erhalten.

Grundsätzlich zählen Therapieentscheidungen bei fortgeschrittenen, lebensbedrohlichen Erkrankungen nach Einschätzung des Leiters der Bochumer Studiengruppe, Prof. Jan Schildmann, zu den schwierigsten in der Medizin. Denn häufig liegen keine verlässlichen Studiendaten über Schaden und Nutzen der gewählten Behandlungsmethode vor.  Um herauszufinden, wie an Krebs erkrankte Patientinnen und Patienten die Aufklärung über unterschiedliche Therapien bewerten und nach welchen Kriterien die Ärzte ihre Entscheidungen treffen, interviewten die Forscher vom Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin Krebspatienten und Onkologen.

Eines der wichtigsten, wenn auch zu erwartenden Ergebnisse: Ärzte entscheiden keineswegs objektiv, sondern es fließen immer auch ihre persönlichen Wertvorstellungen in die Therapieempfehlung mit ein. Bei jungen Patienten mit Familie sind der Wunsch und die Motivation, noch mehr zu tun, eine weitere Therapie zu veranlassen, um die Lebenszeit zu verlängern, stärker ausgeprägt als bei älteren Menschen. Viele orientieren sich auch daran, was sie tun würden, wenn sich jemand in der eignen Familie in gleicher Situation befände:  „Vor kurzem hatte ich eine junge Frau mit Töchtern im Teenageralter, gleiches Alter wie meine Töchter. Also hatte ich das Gefühl …es sollte mich nicht beeinflussen, aber man kann sich vorstellen, man wäre selbst diese Person“, so ein Beispiel aus einem der Interviews.

Ein weiteres Resultat der Studie: Die Wünsche von Patienten verändern sich im Verlauf der Krebserkrankung.  Zu Beginn der Erkrankung vertrauen viele  Patienten allein den behandelnden Ärzten: Ich lege meine Leben in die Hand eines Spezialisten, der weiß, was richtig ist und das Richtige tut. Informationen, die die Erkrankten zu ihrer Erkrankung erhalten, werden deshalb häufig gar nicht richtig aufgenommen und verarbeitet. Das ändert sich allerdings im Verlauf der Erkrankung.  Patienten wünschen dann mehr Informationen und möchten bei der Therapieentscheidung mitbestimmen.

Obwohl sich die Ergebnisse der Bochumer Studie nach Ansicht von Prof. Schildmann nicht verallgemeinern und auf alle Ärzte und alle Krebspatienten übertragen lassen,  empfieht der Bochumer Medizinethiker: „Ärzte sollten die Werturteile, die eine Rolle bei den Empfehlungen spielen, reflektieren. Sie sollten auch prüfen, welche Informationen Patienten zu einem bestimmten Zeitpunkt tastsächlich in die Lage versetzen, entsprechend ihren Wünschen an der Entscheidungsfindung teilzuhaben.“ (akk)

Literatur:
J. Schildmann et al.: ‘One also needs a bit of trust in the doctor … ’: a qualitative interview study with pancreatic cancer patients about their perceptions and views oninformation and treatment decision-making, Annals of Oncology,doi: 10.1093/annonc/mdt193; 2013
 J. Schildmann et al.: “Well, I think there is great variation …”: a qualitative study of oncologists’ experiences and views regarding medical criteria and other factors relevant to treatment decisions in advanced cancer, The Oncologist, doi: 10.1634/theoncologist.2012-0206; 2013