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Integrative Onkologie
Es wächst zusammen, was zusammen gehört
Die integrative Onkologie eröffnet neue Wege in der Krebstherapie
Die integrative Therapie – also die Vernetzung von konventionellen und komplementärmedizinischen Behandlungsverfahren - ist in der Onkologie endgültig „angekommen“. Annette Kruse-Keirath von der Allianz gegen Brustkrebs sprach deshalb mit Dr. Thomas Breitkreuz, Mitglied des Vorstand der Gesellschaft der anthroposophischen Ärzte Deutschlands (GAÄD) und Chefarzt der Abteilung des Innere Medizin des Paracelus-Krankenhauses in Bad Liebenzell über die Möglichkeiten der integrativen Onkologie.
- Allianz gegen Brustkrebs:
Gerade in der Onkologie wurden Erfahrungsheilkunde und Naturheilverfahren lange Zeit als „Zauber aus der Hexenküche“ belächelt und in die Ecke von Scharlatanerie und Abzocke gestellt. Mit Mistel und Löwenzahn kann man keine onkologischen Erkrankungen behandeln. Seit einiger Zeit hat sich das geändert. Die Deutsche Krebsgesellschaft hat eine Arbeitsgemeinschaft Prävention und Integrative Onkologie ins Leben gerufen und viele Brustzentren bieten ihren Patientinnen jetzt auch „sanfte Therapien“ zusätzlich zur konventionellen Schulmedizin an. Was sind nach Ihrer Einschätzung die Gründe für diese Entwicklung?
Dr. Breitkreuz:
Ich denke, ausschlaggebend sind verschiedene Entwicklungen. Bis jetzt ist es so, dass wir im Behandlungsalltag vielfach eine Versorgung in Parallelwelten – naturwissenschaftliche Medizin hier – Naturheilkunde dort - vorfinden. Schon beschäftigen sich aber auch die Fachgesellschaften der naturheilkundlich orientierten Medizin wie die GAÄD oder die Gesellschaft für Naturheilkunde wissenschaftlich mit Thema. Überall gibt es Qualitätsarbeit, auf wissenschaftlichen Kongressen reflektiert man kritisch, wie man innerhalb der komplementärmedizinischen Konzepte besser werden kann, sucht neue Medikamente und Einsatzgebiete der Komplementärmedizin. Das Problem besteht aber darin, dass es seriöse und nicht seriöse komplementärmedizinische Behandlungsverfahren gibt. Hinter manchen Methoden steckt nichts dahinter. Sie sind teuer und man verdient nur mit dem Leid der Patienten Geld. So besteht immer die Frage: Wie trennt man die Spreu vom Weizen?
- Allianz gegen Brustkrebs:
Was unterscheidet die z.B. die anthroposophische Medizin von solchen unseriösen Heilsversprechen? Worin besteht der Unterschied zur konventionellen Krebstherapie?
Dr. Breitkreuz:
Die anthroposophische Medizin hatte seit ihrer Begründung in den 20iger Jahren des letzten Jahrhunderts immer den Anspruch, eine integrative Medizin zu sein. Wir sind alle naturwissenschaftlich, schulmedizinisch ausgebildete Ärzte. Wir unterrichten, wir bilden Studenten und junge Fachärzte aus. Sie finden in unseren Kliniken alle traditionellen medizinischen Fachrichtungen vor – es gibt Brustzentren, Intensivmedizin und natürlich auch die Onkologie-, so dass wir am wenigsten das Problem haben, Naturwissenschaft und Naturheilkunde zu integrieren.
Aber wir haben darüber hinaus immer gefragt: Wie kann man das, was man mit den Mitteln der modernen naturwissenschaftlichen Medizin erreichen kann, ergänzen um andere Wirkprinzipien, um andere Zugangswege zu einem Heilungsprozess, um dem ganzen Menschen, der vor uns sitzt, gerecht zu werden.
Der Mensch besteht ja nicht nur aus Tumor und Rezeptor, sondern hat eine Vitalität, hat ein seelisches Leben. Er steht gerade in der Erkrankungssituation als Mensch in seiner Biographie und fragt sich: Wie gehe ich mit diesem Schicksalsschlag um? Wie gewinne ich dem Sinn ab, wo habe ich Ressourcen, aus denen ich gesund werden kann? Und auf all das versuchen wir, in der Behandlung einzugehen.
- Allianz gegen Brustkrebs:
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, schaut der integrativ arbeitende Arzt auf den Menschen mit seinen Bedürfnissen – und nicht nur den Tumor. Die integrative Onkologie ist also mehr als Naturheilkunde plus. Können Sie einmal erläutern, wie man sich die Umsetzung dieses Konzept ganz konkret im Behandlungsalltag vorstellen kann?
Dr. Breitkreuz:
Was sind die verschiedenen Ebenen integrativer Onkologie? Was unterscheidet sie von einer Naturheilkunde plus? Wenn wir sagen, wir wollen nicht einfach Systeme miteinander verknüpfen, sondern etwas tun, was adäquat ist, dann fragen wir: was brauchen wir, damit eine Patientin mit einer Tumorerkrankung gesund werden kann und als Mensch nicht untergeht. Was können wir dafür tun, dass sie dann, wenn sie nicht mehr gesund wird, doch in einer Art und Weise durch die Erkrankung hindurchgeht, dass sie gestärkt wird, dass sie Fähigkeiten entwickeln und Reifungsprozesse durchmachen kann. Und wenn wir dann schauen, welche Instrumente wir dafür gebrauchen, dann ordnen sich die verschiedenen medizinischen Zugangswege neu.
- Allianz gegen Brustkrebs:
Bedeutet das: Sie versuchen in erster Linie, vom Bedürfnis der Patientin her zu denken und so das für die Frau passende Therapiekonzept zu finden?
Dr. Breitkreuz:
Es kann ja nicht darum gehen: Wir machen einen Kompromiss, ein bisschen Schulmedizin, ein bisschen Naturheilkunde, weil Natur so schön ist. Nein, das das Therapiekonzept muss sich aus den objektiven sachlichen Gegebenheiten herleiten. Bei einer Tumorerkrankung geht es darum, dort wo der Tumor wächst und Kräfte zehrt, anzusetzen. Operation, Chemotherapie, Strahlenbehandlung haben hier durchaus ihre Berechtigung.
Dann geht es immer aber auch um die Frage: Wie geht es Dir? Das ist etwas ganz anderes als der objektive Befund. Das ist die Frage nach meiner Kraft, nach meiner Vitalität. Kann ich aufstehen, bin ich beweglich, bin ich erschöpft, bin ich in einer Fatigue? Das ist eine zweite Ebene – also die Frage: Was können wir dafür tun, dass Lebenskräfte, Kräftigkeit, Vitalität, dass das, was es uns ermöglicht, leicht dahin zu leben, gestärkt wird.
Die dritte Ebene ist die seelisch-emotionale Ebene. Wir wissen natürlich: Wenn jemand durch den Schock einer Erkrankung in eine schwere Depression hineinrutscht, dann stellt sich die Frage: Welche Rolle muss in der Therapie eigentlich die Kräftigung des Seelischen spielen, wie kann ich mit dem, was in diesem Bereich zur Erkrankung gehört, gut umgehen.
Und schließlich ist da auch die große Dimension der Sinnfragen, des Lebensbogens: Wie wird das Leben mit der Erkrankung und trotz der Erkrankung zu einem gelingenden Leben? Wie schaffe ich es, als Mensch zu reifen und dabei in meinen ganzen Lebensbezügen nicht unterzu-gehen?
Und alle diese vier Ebenen haben eine Bedeutung. Die für mich entscheidende Frage ist: Wie schaffen wir es in der Medizin, ein Equilibrium, ein Gleichgewicht zu erzeugen, dass jeweils spezifische Ansätze, die für das Eine oder Andere hilfreich sein können, so ineinander greifen, dass daraus etwas wird, das wird dann eben mit diesem Zielbegriff „integrative Onkologie“ bezeichnen.
- Allianz gegen Brustkrebs:
In der integrativen Onkologie haben wir eine Patientin, die nicht nur eine passiv Leidende ist. Sie soll ja auch eine aktive Rolle spielen. Es gibt aber auch Frauen, die sagen: Ich kann im Moment keine Entscheidung treffen. Ich bin von der Krankheit so in Besitz genommen, dass mir meine Entscheidungskraft fehlt. Wie würden Sie in diesem Fall Patientinnenkompetenz sehen? Kann eine Patientin auch sagen: Bitte entscheide du für mich! Ist das kompetent?
Dr. Breitkreuz:
Wenn sich die Medizin ausschließlich um objektivierbare körperliche Befunde kümmert – Tumorstadien, Größe, Zahl der Metastasen, Rezeptorstatus, Her2-Status – dann ist es natürlich naheliegend zu sagen, man versucht auch die beste Versorgung zu finden, die auf diesen objektiven Parametern beruht.
Auf der anderen Seite habe ich es aber immer mit einem Subjekt zu tun, das lässt sich gar nicht objektivieren. Die Frau bewegen Fragen wie: Wie verhalte ich mich, was halte ich von einer Therapie, welche Behandlung will ich auf keinen Fall, womit kann ich mich beschäftigen. Hier geht es darum, dass dem entsprechen, wie die Patientin diese Situation erlebt. Wir können hier nicht alle über einen Kamm zu scheren, so dass alle immer eine gleiche Art von Beratung bekommen. Wir brauchen dort ein Gefühl, ein Sensorium und natürlich auch ein Instrumentarium für ein angemessenes Reagieren. Wenn ich als Patientin wie etwa bei einer OP oder auf einer Intensivstation in der Situation des Ausgeliefertseins bin, ist die entscheidende Frage: Kann ich dem vertrauen, was mir entgegen kommt?
In einer Situation, wo ich hilflos bin, brauche ich ein Gegenüber, das mit dieser Hilflosigkeit achtsam umgeht und im besten Sinne Fürsorge ausübt. Aber das darf dann auch für Ärzte kein Selbstläufer sein. Wenn jemand, der gerade noch gesagt hat: „Machen Sie, was Sie wollen, helfen Sie mir, ich vertraue Ihnen“ eine Woche später noch einmal nachfragt, dann darf man das nicht als „Störung“ empfinden, ganz im Gegenteil: Wunderbar, denn jetzt ist die Patientin wieder in der Lage zu sagen: Ich möchte gern wieder meine eigene Autonomie wahrnehmen. Und ohne das kommt man in der Therapie ohnehin nicht weiter.
- Allianz gegen Brustkrebs:
Wenn eine Patientin zu Ihnen mit der Diagnose:“ ich habe Brustkrebs“ nach Bad Liebenzell kommt, wie gehen Sie ganz konkret vor, was passiert in Ihrem Krankenhaus?
Dr. Breitkreuz:
Es passiert zunächst das Gleiche wie in allen Orten, wo man sich um eine gute Medizin bemüht. Das heißt: Man sichtet sehr sorgfältig die Befunde, möchte alle Aspekte, alle Segmente der Erkrankung einschätzen können, die wichtig sind für gute Therapieentscheidungen. Dann ist es sicherlich so, dass wir uns viel Zeit für das persönliche Gespräch nehmen. Ich muss ja meine Patientin erst kennenlernen – und zwar in allen vier Ebenen. In welcher Verfassung befindet sich die Patientin, wie ist es um ihre Vitalität bestellt, wo erlebt sie eine Einschränkung. Wie geht es ihr seelisch? Wo steht sie eigentlich in ihrem Leben? Was sind die Prioritäten und Präferenzen der Patientin? Es gibt keine andere Möglichkeit, dies herauszufinden als miteinander zu sprechen.
Dieses Interesse ist für uns keine psychologische Freundlichkeit, sondern es ist uns wichtig, weil wir darauf erst mit dem aufbauen, was wir therapeutisch anbieten können.
Und dann ist es sicherlich so, dass wir angesichts der vielen mit der Erkrankung verbundenen existentiellen Unsicherheiten Raum geben und Zeit für die Entscheidung lassen. So gut es einerseits ist zu sagen, es muss jetzt zügig gehen, so erlebe ich doch andererseits bei vielen Patientinnen, dass es zu schnell geht. Die Patientinnen fühlen sich übermächtigt von Diagnose, Operation, Chemotherapie und realisieren oft erst nach einigen Monaten: Was passiert da eigentlich? Wie hat sich das Leben verändert? Wie will ich darauf eingehen?
Wir legen großen Wert darauf, dorthin zu kommen, dass Entscheidungsprozesse reifen können, dass die Frau gleichermaßen mit dem Kopf und mit dem Herzen eine Entscheidung treffen kann, für einen Weg, den sie als Betroffene einschlägt mit dem sicheren Gefühl: Das ist mein Weg! So werde ich mit dieser Erkrankung umgehen.
- Allianz gegen Brustkrebs:
Die Patientin profitiert in jedem Fall von so einem Vorgehen. Was „macht“ das mit dem Arzt?
Dr. Breitkreuz:
Diese Arbeitsweise verändert uns Ärzte natürlich auch. Man ist ja zum einen Arzt, weil man etwas Gutes tun möchte. Dann hat man Freude am Beruf und am Handwerk. Und natürlich ist man auch in seinem Beruf tätig, weil man als Mensch etwas sucht und auch etwas lernen will.
Und je mehr man dahin kommt, den Patienten nicht zu einem Objekt zu machen, je mehr man sich berühren lässt von der Vielschichtigkeit der Fragen, mit der eben eine solche Diagnose verbunden ist, desto mehr bekommt in eine zurücknehmende, lauschende, manchmal mehr hinhörende, suchende „Wo ist denn der Ansatz jetzt möglich“ Position.
Und natürlich ist es so, dass ich verschiedene therapeutische Werkzeugkästen habe, die ich benutzen kann. Im Verlauf eines solchen Gespräch bin ich somit schon mit der Frage beschäftigt: Ist das etwas, wo eine Kunsttherapie sinnvoll sein kann? Oder ist die Situation so, dass ich mit einer naturheilkundlichen medikamentösen Therapie helfen könnte oder muss sofort die Chemotherapie stattfinden und wie kombiniert man beides? Als Arzt ist man dabei immer in einer kreativen Suche und weiß, dass es angesichts der großen Komplexität ein Glück ist, wenn man der Patientin ganz gerecht werden kann.
- Allianz gegen Brustkrebs:
Braucht man dazu eine Leitlinie?
Dr. Breitkreuz:
Eine gute Leitlinie ist kein automatisierbares Instrument, sondern sie sollte dazu beitragen, dass man Gesichtspunkte, Aspekte zur Verfügung hat, die helfen, gute Entscheidungen zu treffen. Mit einem Automatismus kommt man nicht weiter. Und ich glaube: Die Patientinnen spüren das sehr genau: Bin ich irgendwo eine Nummer und läuft ein Automatismus über mich hinweg oder werde ich wirklich wahrgenommen.
Insoweit würde eine Leitlinie im Sinne von Handlungsautomatismus nicht helfen. Ich glaube aber, dass man dann, wenn man sich bemüht, ein besserer Arzt zu werden, ein inneres Koordinatensystem braucht, in das man gern sein handwerkliches Können, sein schöpferisches Potential, sein Mitgefühl, wo man Hand und Herz gern einbringen möchte und zwar in einer Art und Weise, die dann wirklich für die einzelne Patientin gut ist. Wir müssen als Ärzte lernen, ganz unterschiedliche Sprachen zu sprechen und wir müssen herausfinden, wo ist hier etwas vom Kopf, vom Herzen und von der Hand her gefordert, damit das Handeln zu dem passt, was die Situation erfordert. (akk)